Stationen einer Flucht aus Syrien

„Ich staunte nicht schlecht, als es eines Morgens an meiner Haustür klingelte und Nazhat mit einem mir unbekannten Mann vor mir stand“, erzählt Doris Mohr. „Das ist mein Neffe Camiran“, stellte Nazhat ihr den jungen Mann vor. Doris Mohr begriff sofort, dass hier jemand angekommen war, der Hilfe benötigte. „Ausgezehrt, völlig entkräftet und beinahe scheu nahm der Unbekannte, der nur spärlich mit einem einfachen T-Shirt und Jeans bekleidet war, auf meinem Sofa Platz“, erinnert sich Mohr an die erste Begegnung mit Camiran.

Bei heißem Tee und einem ausgiebigen Frühstück erzählt Nazhat, dass ihrem Neffen nun auch die Flucht aus Syrien geglückt sei, nach einer Odyssee von mehr als zwei Jahren. Sie und ihre Familie seien die einzigen Verwandten hier in Deutschland und sie seien glücklich Camiran einigermaßen wohlbehalten wiederzusehen, dabei streichelt sie liebevoll über seinen Arm. In diesem Moment ahnt Mohr schon, dass es hier ein Riesenproblem gibt: Camiran ist ein Illegaler. Das aber wird nebensächlich als Mohr erfährt, dass er erst 30 Jahre alt ist. „Du meine Güte, dachte ich nur. Ich hatte diesen Mann mindestens 10 Jahre älter geschätzt“, entsinnt sich die ehrenamtliche Flüchtlingshelferin an das Entsetzen, dass in ihr aufstieg.

Tiefliegende , müde Augen, schon etwas schütteres Haar mit ersten Grauansätzen, der Körper ausgenmergelt und die gesamte Person von tiefer Ernsthaftigkeit, beschreibt sie ihren ersten Eindruck. Hier war humanitäre Hilfe primär gefragt, die Formalitäten konnten warten. Mohr versorgt den jungen Mann mit dem Nötigsten: sie organisiert passende Kleidung, lädt ihn zum Essen zu sich nach Hause ein, ein Bett zum Ausruhen fand er bei seinen Verwandten. „Natürlich packte mich gleichzeitig auch das schlechte Gewissen. Ich bot einem illegalen Flüchtling Unterschlupf, ohne ihn bei den Behörden zu melden“, sagt Mohr, „Nach zwei Tagen griff ich zum Telefonhörer und meldete den Neuankömmling bei der Ausländerbehörde. Gott sei Dank gelang es mir, die zuständige Dame davon überzeugen, Camiran noch einige Tage Ruhe zu gönnen, bevor man ihn den Strapazen der Registrierung und Umverteilung aussetzte.“

 

Einen Tag bevor Camiran zur Flüchtlings-Meldestelle nach Dortmund abreiste, erzählte er im Beisein seiner Tante roettgen-online die Geschichte seiner Flucht:

Syrien: In Homs, in der Mitte Syriens, wuchs Camiran mit vier weiteren Geschwistern in einem gut betuchten Eltern-haus auf. Dort ging er zur Schule und begann anschließend ein Englischstudium, bis er seine Einberufung zum Militär erhielt. Dafür hätte er sein Studium für längere Zeit unter-brechen müssen. Ein Aufschub des Militärdienstes bis zum Abschluss seines Studiums war genauso wenig möglich wie eine Kriegsdienstverweigerung oder alternativ das Leisten eines Zivildienstes. Camiran wollte aber weder sein Studium abbrechen noch zur Waffe greifen, also flüchtete er in einer Nacht und Nebel Aktion in den Libanon.


Libanon: Für einen Hungerlohn arbeitete ein Jahr lang in einer Firma für Sicherheits-dienste in Beirut. Als sich die Aussicht auf die Fortsetzung seines Studiums und auch auf einen besser bezahlten Job endgültig zerschlug, kehrte er zurück in seine Heimat.

 

Syrien: Hier erwartete ihn jedoch ein doppeltes Versteck-spiel, einerseits lief er stets Gefahr den marodierenden Soldaten des IS in die Hände zu fallen und andererseits wurde er vom eigenen Militär als Deserteur gesucht. Eine Woche lang versteckte er sich im eigenen Land. Dicht vor Augen die Schrecken des Krieges und den Tod als Zukunftsperspektive. Damit stand sein Entschluss aus der Heimat zu fliehen fest. 2013 war das.

 

Türkei: Zu Fuß passierte er im Schutz der Nacht die syrische Grenze zur Türkei. Sein Ziel: Istanbul. Dort lebten und arbeiteten bereits seine Tante mit Mann und zwei Kindern. Bei ihnen fand Camiran Unterschlupf. Ohne Papiere und türkische Sprachkenntnisse war es für ihn jedoch beinahe unmöglich Arbeit zu finden. Die Kosten für das Lebensnotwendigste und auch die Miete für die Wohnung inklusive der Gas-, Wasser-und Strom-abrechnungen sind immens hoch in Istanbul, so dass er gezwungen war jedwedes Angebot anzunehmen. Er fand eine Beschäftigung in einer Bäckerei. Als Illegaler arbeitete er täglich 12 bis 15 Stunden. Sieben Tage die Woche. Immer nachts. Sein spärliches Gehalt von 300 Euro im Monat habe er auch nicht immer erhalten, sagt er.


Zwei Jahre lang führte Camiran ein Schattendasein. Der sporadische Kontakt zu seinen Ver-wandten, die stete Finsternis, die schamlose Ausbeutung durch den Arbeitgeber und die ausweglos scheinende Situation bedrückten ihn zunehmend. „Von Tag zu Tag wurde er schwermütiger, depressiver“, berichtet seine Tante. „Ich stand mehr als einmal kurz davor, nach Syrien zurückzukehren und wäre dort lieber gestorben als weiter unter diesen ent-würdigenden Umständen zu leben“, erinnert sich Camiran.


Nachdem der Rest der Familie endlich –auch mit Camirans finanzieller Hilfe - das Geld für die weitere Flucht beisammen hatte, blieb er allein zurück. Die Wohnung musste er aufgeben –zu teuer. Er zog zu 20 einander wildfremden, syrischen Flüchtlingen in ein kärgliches Häuschen. Dort lebte und arbeitete er noch eine Weile, bis auch er endlich genügend Geld aus mühsam Erspartem sowie von den Eltern und Freunden beisammen hatte, um die weitere Flucht in Richtung Deutschland bezahlen zu können.


In einer Gruppe von zehn Personen, darunter zwei Kinder, machten sie sich auf den Weg nach Izmir. 1000 Dollar pro Person kostete die gefährliche Überfahrt über das Ägäische Meer nach Griechenland. 45 Personen pferchte der Schlepper in einem kleinen Kastenwagen zusammen und transportierte sie an die Küste. „Die türkische Küstenwache patrouillierte jedoch gerade in diesem Gebiet, so dass wir nicht gleich in See stechen konnten“, erzählt Camiran. Viele kehrten daher zu Fuß nach Izmir zurück. Camiran blieb mit ca. 20 anderen, auch die Frauen und Kinder blieben. Eine Nacht lang kauerten sie sich auf dem zur Abfahrt bereiten Boot zusammen. Um sechs Uhr morgens wagten sie sich in dem neun Meter langen Schlauchboot, trotz hoher Wellen aufs Meer hinaus – hungrig, nur dürftig bekleidet und einer kaum ausreichenden Menge Trinkwasser. Bereits nach einer Stunde wurden sie von der türkischen Küstenwache gestoppt. Ihr Bootsführer wurde mit Stockschlägen malträtiert, die Kinder im Boot schrien vor Angst und auch Camiran war von dem brutalen Vorgehen mehr als eingeschüchtert. „Ich dachte, ich müsste sterben“, sagt er. 


Griechenland: Man übergab sie der griechischen Küstenwache, die sie nach Lesbos in ein Flüchtlingscamp mit 1000 und mehr Flüchtlingen aus Afrika, dem Irak, Afghanistan und Syrien verfrachteten. Dort verbrachte Camiran zehn Tage, bis ihm eine Aufenthaltsgenehmigung

ausgehändigt und er mit vielen weiteren Flüchtlingen aufs griechische Festland übergesetzt wurde.


Wieder heuerten er und einige andere einen Schlepper an, der sie in einem Kleinbus quer durch Griechenland in die ca. 40 bis 50 Kilometer von der mazedonischen Grenze entfernte Stadt Polikastro, transportierte. In der Nacht brachen sie zu einem beschwerlichen, vierstündigen Fußmarsch zur Griechisch-Mazedonischen-Grenze auf. Hier trafen sie auf ein schweres Polizeiaufgebot, das die Überquerung der Grenze zunächst unmöglich machte. „Wir versteckten uns im Wald. Hinter Bäumen, Büschen und im Gras kauernd harrten wir einen Tag lang aus, voller Angst entdeckt zu werden“, so Camiran. In der darauffolgenden Nacht wagte die Gruppe einen erneuten Vorstoß. Auf dem Bauch robbend oder rennend versuchten sie die Grenze zu passieren. Camiran hatte Glück; er und einige andere schafften es unbemerkt nach Mazedonien. Viele wurden gefasst und zurück nach Griechenland geschickt.