Flüchtlinge brauchen mehr als ein Dach über dem Kopf 

Im Gespräch mit der ehrenamtlichen Flüchtlingshelferin Doris Mohr aus Röttgen

 

Seit einem Jahr betreut die ehemalige Lehrerin und Gesprächstherapeutin Doris Mohr u. a. eine sechsköpfige syrische Familie, die sie in der St. Rochus Gemeinde in Duisdorf kennengelernt hat. Damals war ihr sofort klar: Du musst hier was tun. Und sie bot an, Deutschunterricht zu geben.

 

Unkonventioneller Deutschunterricht

Fortan kam Dr. R. täglich zwei Stunden zum Deutschunterricht. In seiner Heimat war er als Chirurg tätig. „Das war ein aufgeschlossener und intelligenter Mann, der da vor mir stand“, erinnert sich Doris Mohr. Die Verständigung war jedoch schwierig, denn wie bringt man jemandem Deutsch bei, mit dem man keine gemeinsame Sprache außer Basisenglisch hat?

Schnell verwarf die quirlige 76-Jährige die üblichen Lehrmethoden und setzte auf ihre Kreativität. Kurzerhand startete sie den Deutschunterricht auf praktische Weise: erst die Dinge des täglichen Lebens kennenlernen und sich über die eigene Situation äußern.

 

Als Arzt war es wichtig, die medizinischen Fachausdrücke zu erlernen. Da half ganz praktisch die “Apotheker Umschau“, später das Ärzteblatt. „Und, was soll ich sagen, es

funktionierte wunderbar“, lächelt sie zufrieden, „wir begannen uns auch ohne gemeinsame Sprache zu verstehen.“ Ausgedehnte Spaziergänge mit der ganzen syrischen Familie erweiterten den Sprachschatz kontinuierlich und machten die Neuankömmlinge gleichzeitig mit ihrer neuen Umgebung vertraut. Von den örtlichen Geschäften bis in den Kottenforst. Das Staunen über die „riesenhaften“, himmelan wachsenden Bäume sei groß gewesen, erzählt sie, in Syrien gäbe es ja mehr Büsche und Sträucher.

 

Neue Wege gehen

All das beschreibt Doris Mohr lebhaft und engagiert, aber dann wird sie sehr ernst. Leise fährt

sie fort: „Nachdem die Sprachbarriere immer geringer wurde, habe ich gemerkt, dass die Ausflüge in den Wald für diese Menschen mehr als eine Entdeckungsreise war, es war auch eine Wohltat für ihre Seele.“ Den oft schwer traumatisierten Flüchtlingen Mut zu machen, ihnen zu zeigen, dass sie hier nicht allein sind, ihre Gedanken auf das Positive zu lenken - aber auch mit ihnen zu trauern, wenn Verwandte in der alten Heimat bei Bombenangriffen ums Leben kamen, erfordere viel Kraft. „Sie schienen die Ängste von der Flucht, Sorgen um

zurückgebliebene Verwandte und ihre ungewisse Zukunft zu vergessen. Auf den sonst oft versteinerten Gesichtszügen mit tieftraurigen Augen konnte ich zum ersten Mal ein Lächeln entdecken. Und genau diese kleinen Momente sind die Antriebsfeder für meine Arbeit.“

Und so ist aus dem anfänglichen Deutschunterricht schnell eine umfassende Familien-betreuung geworden. Etwa bei Behördengängen, Recherchen, bürokratischen Kämpfen oder Arztbesuchen.

 

Die Hilfsbereitschaft ist groß

Den entwurzelten Familien hier eine neue Heimat zu schaffen, ist eine Mammutaufgabe.

Da ist sie froh, dass ihre Familie, Freunde und Bekannte ihr Engagement so tatkräftig unterstützen: Behördengänge übernehmen, ihre Ideen, wie die syrischen Familien noch stärker in unsere Gesellschaft eingebunden werden können, aufgreifen und gemeinsam mit

ihr an der Umsetzung arbeiten oder einfach nur im Haushalt mithelfen - denn auch der muss ja besorgt werden.


So erinnert sie sich gerne daran, wie sie eine andere syrische Flüchtlings-familie ganz zu Anfang zu einem Willkommens-Essen zu sich nach Hause eingeladen hatte. Ein Gericht war schnell gefunden: „Huhn und Reis isst eigentlich jeder“, winkt sie locker ab. Je näher der abgemachte Termin jedoch kam, desto mulmiger sei ihr geworden: in welcher Sprache sollten sie sich verständigen? „Jetzt stellen sie sich einmal vor: ein Essen, bei dem jeder nur verlegen auf seinen Teller schaut und sich schweigend die Häppchen in den Mund schiebt? Wie schrecklich!“, sprudelt es aus ihr heraus. Ihre Heilpraktikerin ist Syrerin,

ortsansässig mit perfekten Arabisch- und Deutschkenntnissen. Ohne zu zögern erklärte sie sich bereit, an diesem Abend zu dolmetschen. „Was für ein Glücksfall! So war das Eis auf beiden Seiten schnell gebrochen.“, entsinnt sich die Gastgeberin begeistert. Mittlerweile

habe es schon viele gemeinsame Mahlzeiten gegeben, auch ohne Übersetzer. Zu den wohl schönsten zählen für sie die Abende, an denen sie gemeinsam etwas Landestypisches gekocht und probiert hätten. „Die reinsten Geschmacksexplosionen auf der Zunge seien das gewesen, mal mehr, mal weniger angenehm für den einen oder anderen“, lacht sie.



Es gab schon viele gemeinsame Mahlzeiten im Sinne der Völkerverständigung: Menüs aus arabischen und deutschen Küchenspezialitäten wurden ausprobiert.

Hier ein gemeinsames Osterfrühstück.

 

Besonders berührt hat Doris Mohr die Hilfsbereitschaft vieler Menschen im Ort. Kleider- und Sachspenden sind einfach zu bekommen – zum Glück gibt es in Röttgen ja auch die Kleiderstube - viele bieten auch persönliche oder finanzielle Unterstützung an, bei Sprach- oder Musikunterricht, der Bewältigung der Bürokratie. Wie aber gelangen die syrischen Familienmitglieder kostengünstig und schnell zum Sprach- oder Musikunterricht? Natürlich mit dem Fahrrad. Durch Zufall lernte Doris Mohr einen tatkräftigen, hilfsbereiten Röttgener kennen, der sowohl gebrauchte Fahrräder besorgte und sich um Kurse beim Bonner ADFC kümmerte. Denn neben dem Fahrradfahren an sich, haperte es auch an der Kenntnis von Verkehrsregeln.





Auch Fahrradfahren will gelernt sein.

Die syrische Familie in der Fahrradschule.

 Blitzgescheit, emsig und zielstrebig

Durch ihre Arbeit in der Flüchtlingshilfe lernt sie beinahe täglich neue Migranten kennen.

„Das sind blitzgescheite Leute: Ärzte, Juristen, Ingenieure, alle mit einer guten Ausbildung, die nicht von Almosen leben wollen.“ So richtet sich ihre Aufmerksamkeit insbesondere auch darauf, den Menschen eine geeignete Arbeit oder Weiterbildungsmaßnahme zu vermitteln.

All ihre Schützlinge lernen fleißig und rasch, sagt sie. Vor vier Monaten kam Mohammad (16 Jahre) hierher. Er hatte vier Jahre keine Schule besuchen können, in der Türkei hart für seinen Lebensunterhalt geschuftet, war erschöpft und voller Angst, was ihn hier erwarten würde. Er kam zur ASA (Ausbildung statt Abschiebung), wurde durch Spenden am Nachmittag sprachlich besonders gefördert, schaffte es bereits aufs Berufskolleg und konnte dort sogar eine Klasse überspringen. Jetzt bekommt er sogar Gitarrenunterricht, von einem

Sponsor aus Röttgen geschenkt. Avin (8 Jahre) und ihre Schwester Sevin (11 Jahre) besuchen die Schlossbachschule. Später wird Sevin das Carl-von-Ossietzky-Gymnasium besuchen, beide sprechen bereits fünf Sprachen (Arabisch, Kurdisch, Englisch, Türkisch und Deutsch).

Tammam (23 Jahre) wird Elektrotechnik studieren. Dr. R., der in Syrien Chef der Chirurgie war, hat vor kurzem die Integrationsprüfung und eine fortgeschrittene Deutschprüfung bestanden und strebt eine Anstellung in einem Krankenhaus an. Diese gut ausgebildeten Leute in die Arbeitswelt einzugliedern, sei eine Chance für beide Seiten. Für die deutsche

Gesellschaft und für die Flüchtlinge, die so die immens wichtige finanzielle Unabhängigkeit wieder erlangen.

 

Erfolgreiche Integration ist nicht nur ein finanzielles Problem

„Allein damit ist es nicht getan!“ mahnt Doris Mohr. Die Flüchtlinge mit ihrer anderen Religion und Kultur hier dauerhaft zu integrieren – und das müssen wir wohl in Anbetracht der Lage in Syrien, Eritrea und Afghanistan - erfordere weitaus mehr als Sach- und finanzielle Spenden und berufliche Perspektiven. Die Eingliederung in unsere Gesellschaft ist enorm wichtig. Eine Herausforderung, der sich Doris Mohr beinahe täglich gegenüber sieht.

 

So gibt es bei aller Toleranz auch hier Ressentiments gegen die Asylsuchenden. Insbesondere bei der Wohnungssuche wird das deutlich. „Nein, mit solchen Leuten wollen wir nichts zu tun haben“ oder „Wir vermieten nicht an Ausländer“, trotz garantierter Mietzahlungen, hört sie öfter am Telefon. „Das ist ein Riesenproblem“, weiß Doris Mohr, „aber wenn man einmal gesehen hat, in welch unzulänglichen Unterkünften einige Flüchtlinge auch hier in Bonn hausen müssen, dann muten diese kategorischen Antworten unbegreiflich an“. Natürlich versucht die Stadt, Unterkünfte für die vielen Menschen zu schaffen, aber preiswerter Mietwohnraum ist knapp. (Derzeit leben 925 Asylbewerber und Flüchtlinge aus 37 Ländern hier, Stand 27.4.2015, Quelle: www. Integration-in-bonn.de). Da sei privater Einsatz umso wichtiger. Die Reaktion der Leute auf die Flüchtlinge ist ganz unterschiedlich. Da treffen sie neugierige Blicke, wenn sie die achtjährige Avin mit ihren großen dunklen Augen und dem kohlschwarzen Haar an der Hand hält und sie miteinander schäkern. Andere drehen sich weg, sehen fort. Manche trauen sich und suchen ein Gespräch. Und auch Doris Mohr wird nicht müde, das Gespräch mit ihren Nachbarn, Freunden oder auch mit Wildfremden zu suchen.


Brücken bauen

Sie will aufmerksam machen auf das Schicksaal der Flüchtlinge und Brücken bauen zwischen den Menschen – hier wie dort. So nimmt sie Mohammad, Sevin, Avin und andere Flüchtlinge mit zum Adventssingen der Nachbarschaft, stellt sie auf Feiern Freunden und Bekannten vor, lässt sie teilhaben an christlichen Feiertagen, indem sie gemeinsam den Weihnachtsbaum schmücken oder Ostereier suchen, zeigt und erklärt ihnen deutsches Brauchtum. Dabei sieht sie sich als Vermittlerin zwischen den Menschen verschiedener Kulturen und versucht mit ihren Aktionen Berührungsängste auf beiden Seiten abzubauen. 


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